Der Blindgänger

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Indiana Tribüne” vom 24.07.1905


Es war einer der heißesten Tage im August gewesen. An diesem Tage hatte Regiments­besichtigung stattgefunden. Und diese Besichtigung war vorgenommen worden von einem funkelnagelneuen Kommandeur, dem gar seltsame Gerüchte vorausgegangen waren.

Das sind drei Fakta, deren Zusammenwirken einem militärisch nicht geschulten Leser etwa durch folgendes Beispiel klargemacht werden kann: Man denke sich einen Tag, an welchem auch der schämrigste Mensch sich nur so weit bekleidet, als das zur Vermeidung öffentlichen Aergernisses geboten erscheint. An einem solchen Tage sieht man sich plötzlich gezwungen, einen wattirten Rock anzuziehen, seine Hüfte mit einem schweren Eisen zu umgürten und einen Hut aufzusetzen, der zu einem Theile aus Leder, zum anderen aus Metall besteht. So angethan, versetze man sich für sechs Stunden in die Wüste Ghobi — bekanntlich eine schöne Gegend Zentralasiens, welche von den Chinesen „Thal des glühenden Sandes” genannt wird. Hier müssen auf Anordnung eines wildfremden Gottseibeiuns, dem das einen höllischen Spaß zu machen scheint, unausgesetzt Körperbewegungen ausgeführt werden — nach bestimmten Gesetzen, die ebenso harmonisch wie schweißtriefend sind.

Dieser Vergleich hinkt natürlich, wie alle Vergleiche. Aber nur in dem einen Punkite, daß man bei einem richtigen Teufel immer weiß, was man von ihm zu erwarten hat. Er ist das Prinzip und der unbestechliche Vergelter des Bösen. Hat man sich gut eingeführt, so kann er einem nichts anhaben und muß unter Fluchen und Schwefelgestank abfahren. Ist jedoch das Maß der menschlichen Irrungen und Verfehlungen voll, dann jubelt seine schwarze Seele und er holt einen.

Das Infanterie-Regiment Markgraf Otto hatte keine Ahnung, woran es mit seinem neuen Kommandeur war. Ruf und Gerüchte, welche ihm voraufgegangen, lauteten merkwürdig symbolisch und gaben kein klares Bild. Von einer Seite war die Kunde gekommen, der Oberst von Borsch sei einem mit Seidenplüsch überzogenem Polsterstuhle zu vergleichen. Aus einiger Entfernung nehme er sich sehr behaglich aus. Auch wenn man vorsichtig über das Seidenpolster streiche, sei der Eindruck noch ein sehr freundlicher und angenehmer. Dagegen wäre es nicht zu empfehlen, sich darauf bequem zu machen. Der weiche Plüsch verberge ein komplizirtes Arrangement von Nadeln, die niederträchtig piekten — zu einer Zeit, wo man es gar nicht erwarte, und an einer Stelle, die man nicht im Geringsten gefährdet glaubte.

Von anderer Seite wieder war der Oberst mit einem Blindgänger verglichen worden — einem Artilleriegeschoß, das aus Eigensinn oder anderen schwer ersichtlichen Gründen nach dem Schusse nicht krepirt, seine Explosionskraft aber behält und bei unvorsichtiger Behandlung zu ganz ungelegener Zeit auch bethätigt.

Aus Alldem war man wohl ein bischen ängstlich, aber nicht recht klug geworden. Auch nach der Besichtigung nicht. Während die Bataillone im Schweiße ihres Angesichts ihre schönsten Künste gezeigt, hatte der Oberst v. Borsch im Schatten eines Lindenbaumes unbewegt auf seinem Schlachtrosse gesessen und nichts gesagt. Keine Spur von der Nervosität anderer Regiments­kommandeure, die bei solchen Gelegenheiten auf ihrem Schinder herumrutschten wie ein Frosch auf einer Gurke, wüthend ihren Flamberg schwingen und die lästerlichsten Reden führen.

Nichts von alledem.

Den Herren Offizieren war diese Haltung so ungewöhnlich erschienen, daß sie vor lauter Staunen und Verwunderung ihre Sache nicht besser, sondern schlechter gemacht hatten, wie sonst. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitsthier. Wenn er gewohnt ist, angeschnauzt zu werden, so beunruhigt es ihn, wenn das ausbleibt. Mit um so größerer Sicherheit hatten sie darauf gerechnet, daß die Kritik das Versäumte nachholen würde. Und nicht zu knapp.

„Jetzt wird er pieken,” hatten die Herren einander zugeraunt, als der Offiziersruf sie herantrompetete. „Jetzt explodirt der Blindgänger!”

Nichts von alledem. Der Herr Oberst hatte die Hand an den Helm gelegt und freundlich folgendes gesagt: „Ein heißer Tag heute, meine Herren. Wir haben mindestens 30 Grad Reaumur im Schatten. Ueberhaupt ein heißer Sommer in diesem Jahre. Wenn es nicht bald regnet, werden die Feldfrüchte zum großen Theile verderben und wir werden eine große Theuerung haben. Na — hoffen wir das beste. Ich danke Ihnen, meine Herren. Auf Wiedersehen im Kasino.”

*           *           *

Nach dem Liebesmahle, dem der neue Oberst präsidirt, hatten auch die vorsichtigsten und bedenklichsten Herren ihrer Sorgen hinter sich geworfen. So etwas von Liebenswürdigkeit und vertraulicher Jovialität war überhaupt noch nicht dagewesen. Die Tafel war längst aufgehoben. Er war so spät geworden, daß einige Stabsoffiziere und Hauptleute bereits verstohlen nach der Uhr spähten. Das waren aber nur ein paar besonders stark Verheirathete. Die Uebrigen freuten sich sorglos und beglückt des neuen Herrn, der unentwegt im Kreise seiner Offiziere saß, eine Zigarre nach der anderen rauchte, eine Flasche nach der anderen auslutschte und der begeisterten Korona eine Schnurre nach der anderen erzählte.

Eben ließ sich Oberst von Borsch die fünfte Henry Clay reichen. Selbstverständlich rissen alle die Schwedenschachtel aus der Tasche, um dem Chef Feuer zu reichen: Dieser wehrte unter gemüthlichem Lachen ab.

„Nicht so stürzen, meine Herren! Nicht stürzen! Immer vorsichtig. Mit Streichhölzern muß man nicht funkeln. Vielen Dank, Herr Oberstleutnant — danke sehr. Sie müssen nämlich wissen, meine Herren — —”

Der Oberst neigte den Kopf ein wenig auf die rechte Schulter und sog seine Zigarre an dem ihm gereichten Streichholze in Brand. Obwohl die große Importe viel Aufmerksamkeit erforderte, um kunstgerecht zu erglimmen, unterbrach Herr von Borsch seine Rede nicht.

„Sie müssen nämlich wissen, meine Herren,” wiederholte er dann, indem er einen flüchtigen Blick auf die Brandstelle seiner Zigarre warf und sich behaglich in seinen Sessel zurücklehnte, „daß kleine Ursachen oft sehr bedeutende Wirkungen haben können.”

Die Festlichkeit war bereits in einem Stadium, welches auch den jüngeren Herren gestattete, diese Binsenweisheit ihres neuen Kommandeurs mit lauter und lebhafter Heiterkeit aufzunehmen. Der Oberst ließ die Herren „sich auslachen”.

„Nee — thatsächlich. Sehen Sie mal: Wie Sie vorhin in liebenswürdiger Dienstwilligkeit mit den Schwefelhölzern auf mich eindrangen, fiel mir ein, daß ich es lediglich einem solchen winzigen Hölzchen zu verdanken habe, wenn ich heute hier in aller Gemüthlichkeit unter Ihnen sitzen darf —”

„Ah —! Wie wäre das möglich! Bitten gehorsamst, zu erzählen —!”

„Na schön. Also passen Sie mal Achtung. Wegen eines Streichholzes bin ich Junggeselle und Offizier geblieben. Wäre dieses Streichholz nicht gewesen, so wäre ich heute längst verheirathet und würde auch immer nach der Uhr sehen müssen, wie Herr Major von Schleiden und Herr Hauptmann Nehring. — Streiten Sie nicht, meine Herren; ich hab's gesehen. Und das macht nichts. Ich kenne viele verheirathete Kameraden, die, wenn sie später nach Hause kommen, nur guten Abend zu sagen brauchen; das andere sagt alles ihre Frau.”

Erneute stürmische Heiterkeit, der auch die beiden Geuzten — wie gesagt: noblenz koblenz — sich anschlossen. Der Oberst ließ die Herren „sich auslachen” und fuhr fort: „Als junger Hauptmann war ich einmal verlobt. Wie der Mensch nie größere Dummheiten macht, als wenn er verliebt ist, so hatte auch ich auf den dringenden Wunsch meiner Braut den Entschluß gefaßt, den bunten Rock auszuziehen und mich der Bewirthschaftung jener bedeutenden Liegenschaften und Hammelherden zu widmen, die mir als Mitgift zufallen sollten. Etwa vier Wochen vor meiner Hochzeit und meinem Abschied hatten wir ein Sommerfest im Kasinogarten. Mit Damen natürlich. Die Lustbarkeit war im schönsten Gange. Die Herren rauchten und flirteten; die Damen aßen Himbeereis und flirteten auch. Während ich mich mit meiner Braut unterhielt, bemerkte ich, daß, unser Regiments­kommandeur, der eben vorüberging, Feuer für seine Zigarre suchte. Selbstredend sprang ich zu, — wie Sie vorhin, meine Herren — leider aber so unvorsichtig, daß ich meine Braut anstieß, worauf sie eine ansehnliche Portion Himbeereis über ihr schlohweißes Kleid schüttete. Ich muß nun bemerken, meine Herren, daß ich ein Mensch bin, der sich zu beherrschen weiß. Ich schätze nichts so sehr, als Selbstbeherrschung. Diese hatte meine Braut nicht. Sie zog nicht nur einen Flunsch, sondern ließ auch vor versammeltem Kriegsvolke durchblicken, daß sie mich für einen Tapier oder dergleichen halte. Das fiel mir auf — — und nach kurzem Ueberlegen ließ ich die Verlobung zurückgehen. So ist es also durch ein einziges winziges Streichhölzchen gekommen, daß ich Junggeselle und ein freier Mann geblieben bin.”

Minutenlang tobten Beifall und Heiterkeit durch den Saal. Der Oberst ließ die Herren „sich auslachen” — dann fügte er trocken hinzu: „Einen Nachtheil hat mir das bewußte Streichhölzchen allerdings auch gebracht. Hätte ich geheirathet und meinen Abschied genommen, dann hätte ich eine solche saumäßige, unter allem Luder rangirende Vorstellung, wie sie das Regiment Markgraf Otto heute gemimt, nicht mitzuerleben brauchen.”

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